Im Porträt

Helmut Richter

Lieber Herr Richter, Sie sind im Alter von 80 Jahren von Minden in Westfalen nach Berlin gezogen. Wie kam es dazu?

Das ist eine lange Geschichte. Meine Frau und ich sind beide 87. Meine Frau kommt aus Bayern, in der Nähe von Augsburg. Sie ist katholisch. Ich bin gebürtiger Lübecker, und bin in Travemünde an der Ostsee aufgewachsen. 1950 verließ ich die Schule. Eigentlich wollte ich zur See fahren. Damals musste man zum Arbeitsamt und eine Eignungsprüfung machen für den Beruf, für den man sich entschieden hatte. Da sagten die gleich, zur See gehen, den Wunsch können wir nicht akzeptieren. Denn kurz nach dem Krieg gab es viele Matrosen aus der Kriegsmarine, die einen Job suchten. Ein Klassenkamerad ist Segelmacher geworden und baute selber Segel und Masten für große und kleine Segelschiffe.

Ihr Traum, zur See zu fahren, blieb Ihnen verwehrt. Was haben Sie dann gemacht?

Ich machte eine Schneider-Lehre. In Deutschland gab es damals schlechte Verdienstmöglichkeiten und große Arbeitslosigkeit. So hat es mich 1953 ins Ausland gezogen. Ich war anderthalb Jahre in Turin, Italien, denn wir hatten dort Verwandte mütterlicherseits. Von dort bin ich in die Schweiz gegangen. In Luzern arbeitete ich im Hotel, zunächst als Page. Da ich drei Sprachen konnte, Deutsch, Englisch, Italienisch, war ich ein gefragter Page. Nach einer Saison wurde mir angeboten, als Chef der Pagen in die nächste Saison zu gehen. Gleichzeitig bot man mir an, dass ich mit dem Hotel-eigenen Taxi die Gäste vom Bahnhof zum Hotel chauffiere. Ich hatte aber gar keinen Führerschein. Den machte ich dann in der Winterpause, als wenig Gäste da waren, nach. Dann gab es einen Zug, den sogenannten „Skandinavien-Express“ von Rom bis nach Stockholm. Der hielt immer nachts in Luzern. Die Gäste musste ich dann nachts vom Bahnhof abholen. Außerdem arbeitete ich als Telefonist. Damals gab es ja noch keine Mobiltelefone. Telefonate mussten beim Fernmeldeamt angemeldet werden. Die Weltreisenden wollten mit New York oder San Francisco telefonieren, da musste man die Zeitunterschiede kennen. Dann wollten Gäste im Sommer gerne auf die Berge. Also musste ich früh am Morgen auf dem Berg anrufen und die Wetterlage erfragen und danach die Gäste wecken. Manchmal habe ich 80 Stunden in der Woche gearbeitet. Das Trinkgeld war oft höher als das Gehalt. In Luzern habe ich auch meine Frau kennengelernt.

Wie kam es dazu?

Meine Frau hatte wie ich in der Schweiz gearbeitet, in der Konfektion. Wir haben uns bei einem Maskenball kennengelernt. Nach unserer Hochzeit im Jahr 1956 wurde unsere erste Tochter geboren. Dann zogen wir nach Zürich. Aber ich hatte wenig Zeit für die Familie. Später waren die Arbeitsbedingungen in Deutschland besser, und so sind wir gemeinsam zuerst nach Pforzheim, Münster in Westfalen und später nach Hannover gezogen. Dort arbeitete ich im Außendienst. Zunächst verkaufte ich als selbstständiger Handelsvertreter Tiefkühltruhen. Im ersten Jahr hatte ich mit neuen Aktionen viele neue Kunden gewonnen, das war ein großer Erfolg. Später vertrieb ich Kerzen. Ich hatte ein gutes Einkommen und einen Dienstwagen. Außerdem wurden alle Telefonkosten übernommen. Das war wie sechs Richtige im Lotto. Als Familiengründer mit zwei Kindern konnten wir uns endlich die Wohnung vernünftig einrichten. Später baute ich als Vertriebsleiter bei einer Firma in Minden einen Textil-Großhandel mit auf. Anfangs machten wir anderthalb Millionen DM Umsatz. Als ich ausstieg, waren es 2 Mio. DM. Im Jahr 1994 ging ich in den Vorruhestand. Ich war krank geworden, hatte das erste Mal Krebs. Und ein Jahr später wurde ich am Bein operiert.

Nun noch einmal zur Ausgangsfrage: wie kamen Sie nach all den Jahren nach Berlin?

Unsere älteste Tochter lebt seit über 30 Jahren in Berlin. Eines Tages hat sie zu uns gesagt: Ich kann mich leider nicht um euch kümmern. Zieht doch nach Berlin! Damals waren wir 80. Wir sagten: Solange wir das noch selber entscheiden können, machen wir das. 2012 zogen wir in eine schöne Wohnung in der 11. Etage in der Gitschiner Straße. Dort hatten wir einen wunderbaren Ausblick über ganz Berlin. Im Quartiersmanagement am Wassertorplatz habe ich mich für die Interessen der Bewohner im Kiez eingesetzt. Und wir fanden Kontakt zur St. Simeon-Kirche, wo wir uns sehr wohl fühlten. Weil wir vor zwei Jahren in die Boeckhstraße umzogen, besuchen wir jetzt die Gottesdienste in der Melanchthon-Kirche. Dorthin sind es nur zehn Minuten.

Gab es neben Beruf und Familie Zeit für Freizeitbeschäftigungen?

Meine Frau und ich sind fast 25 Jahre lang gesegelt. Zuerst fingen wir in Hannover auf dem Steinhuder Meer mit einer Jolle an, ein kleines offenes Boot. Später kauften wir ein größeres Boot, ein 22 Fuß-Schiff, 7,20 m Lang und 2.50 m breit. Das haben wir nach Holland auf das Ijsselmeer gelegt und unsere Wochenenden in Holland verbracht. Später sind wir damit auf der Ostsee gesegelt, bis nach Bornholm in Schweden. So ein Boot ist wie ein Raumschiff, man schläft und kocht auf dem Schiff. Freitagabends fuhr ich nach getaner Arbeit mit meiner Frau nach Holland zum Schiff, und kaum hatte ich den Fuß auf das Boot gesetzt, schon hatte ich keine Gedanken mehr an das Geschäft, denn das Segeln brauchte ja alle Aufmerksamkeit. So hat sich mein Kindheitstraum, zur See zu fahren, doch noch erfüllt, nur eben als Hobby.

Wie kamen Sie überhaupt zur evangelischen Kirche?

Getauft wurde ich kurz nach der Geburt in der Marienkirche in Lübeck. Aber Kontakt zur Kirche fand ich erst später. Als zwölfjähriges Schulkind ging ich jeden Morgen mit einem Schulkameraden zur Schule. Er hieß Erich. Wir nannten ihn aber nur den Boxer, weil er so groß und kräftig war. Travemünde hatte damals 12.000 Einwohner. Durch die vielen Flüchtlinge, die auch aus Ostpreußen kamen, stieg die Zahl der Einwohner aber auf 25.000 an. In der evangelischen Kirche wurde daher ein weiterer junger Pfarrer eingestellt, der im Krieg als Soldatenpfarrer in Russland war. Sein Assistent, der mit ihm in die Heimat zurückgekommen war, fing bei ihm als Diakon an. Seine erste Aufgabe war die Gründung einer Jugendgruppe. Eines Tages sagte der Boxer, ich soll mit in die evangelische Jugendgruppe kommen. So bin ich zur evangelischen Jugend gekommen. Wir trafen uns jeden Mittwoch zu Bibelgesprächen, haben Lieder gesungen, sind gemeinsam zur Kirche gegangen. Wir machten auch Fahren zu anderen Gemeinden und haben uns auf diese Weise einander gut kennengelernt. 1950 gehörte ich zum ersten Konfirmandenjahrgang nach Kriegsende. Später leitete ich selbst eine Jugendgruppe in Travemünde.

Sie führen mit Ihrer Frau seit 63 Jahren eine konfessionsverschiedene Ehe. Wie sind Ihre ökumenischen Erfahrungen?

Wir hatten nie Probleme damit, dass meine Frau katholisch ist und ich evangelisch bin. Wir glauben an denselben Gott, da spielt es keine Rolle, ob ich von links oder rechts an ihn glaube. Wir sind immer in beide Kirchen gegangen, mal in eine katholische, mal in eine evangelische. Als wir geheiratet haben, musste ich eine Eheprüfung der katholischen Kirche über uns ergehen lassen. Wir mussten uns katholisch trauen lassen, damit meine Frau ihren Glauben behalten konnte. Aber meine Frau hat mich überhaupt wieder stärker zum Glauben gebracht. Bevor wir uns kennenlernten, hatte ich nicht mehr an die Kirche gedacht.
Lieber Herr Richter, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Pfarrer Christoph Heil