St. Thomas: Aus der Geschichte (Thomasbote 1936)

Im Jahr 1936 brachte das von Herrn Pfarrer Lic. Böhlig herausgegebene „Gemeindeblatt von St. Thomas“ einen Bericht über die Entstehung der Thomasgemeinde aus der Feder von Herrn Pfarrer Brausch.

 

Aus der Geschichte der St.-Thomas-Gemeinde

 

Jede Familie, die Familiensinn hat, bemüht sich, ihren Stammbaum so weit als irgend möglich zu-rück zu verfolgen und die Geschichte der Familie zu erforschen. Sie legt Wert darauf, die Über-lieferungen aus alter Zeit und den Geist, der einst die Geschlechter beseelt hat, den kommenden Generationen als heiliges Erbe zu übermitteln.

 

Eine kirchliche Gemeinde ist gewissermaßen eine Familie im großen. Und je lebendiger eine Gemeinde ist, je stärker ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und Gemeindebewußtsein, um so größer ist das Bedürfnis, etwas aus der Geschichte der Gemeinde zu erfahren. Unser Gemeindeblatt hat sich  die Aufgabe gestellt, das Gemeindebewußtsein zu stärken. Darum ist hier der rechte Ort, um die geschichtlichen Erinnerungen  aus der Vergangenheit  der St. Thomas-Gemeinde dem gegenwärtigen Geschlecht  zu überliefern. Zwar ist die St. Thomas-Gemeinde noch eine sehr junge Gemeinde. Aber immerhin sind zwei Menschenalter seit ihrer Gründung vergangen und die Zahl derer, die ihre Ent-stehung mit erlebt haben, wird immer kleiner. So sollen denn in einer Reihe lose aufeinander folgender Aufsätze die geschichtlichen Erinnerungen aus der Vergangenheit unserer Gemeinde gebo-ten werden, soweit sie allgemeines Interesse beanspruchen können.

 

1. Die Entstehung der Gemeinde

 

Über die Entstehung der St. Thomas-Gemeinde liegt kein poetischer Zauber. Höchst prosaisch und nüchtern war ihr Anfang. Als die Luisenstadt-Gemeinde sich ins Ungemessene auszudehnen drohte, wurde ein Glied von ihrem Leibe getrennt. Schon im Jahre 1845 bei der Gründung der Jakobi-Gemeinde, die auch ein Kind der Luisenstadt-Mutter ist, wurde erwogen, auch den östlichen Teil der Luisenstadt-Gemeinde zu einer neuen Gemeinde abzuzweigen. Aber erst 15 Jahre später, als durch den immer weiter fortschreitenden Anbau des „Köpenicker Feldes“ ein kirchlicher Notstand einzu-treten drohte, wurde diesem Plan ernstlich näher getreten. Auf Antrag des Kirchenvorstandes und der Geistlichen von Luisenstadt wurde der damalige zweite Prediger an der St. Andreas-Kirche, Hübner, am 21. Dezember 1860 vom Magistrat zum dritten Prediger an die Luisenstadtkirche berufen mit dem Auftrag, die Abzweigung der neuen Gemeinde in die Wege zu leiten. Die endgültige Loslösung von der Luisenstadt-Gemeinde erfolgte am 1. April 1864 durch  die Umpfarrungs-Urkunde des Königlichen Konsistoriums vom 19. März 1864. Die neue Gemeinde, die zunächst den Namen „Neue Luisenstadt-Gemeinde“ erhielt, wurde im Norden begrenzt durch die Spree, im Westen durch die Brücken- und Neanderstraße und den Kanal, im Süden durch die Dresdener Straße, im Osten durch den Landwehrgraben. Sie zählte rund 38.000 Seelen. Auf Antrag des Kirchenvorstandes und des Magistrats wurde der Gemeinde durch Erlaß des Königs Wilhelm I.  vom 6. Mai 1865 der von dem Prediger Hübner in Vorschlag gebrachte Name St. Thomas-Gemeinde beigelegt.

 

Die neue Gemeinde behielt vorläufig mit der alten einen gemeinsamen Kirchenvorstand, der durch drei neue Mitglieder aus dem Bezirk der neuen Gemeinde ergänzt wurde. Ebenso wurde zunächst eine gemeinschaftliche Vermögensverwaltung beibehalten, jedoch mit dem Vorbehalt, daß die Prediger-Wittwenkasse für die Geistlichen der Luisenstadtkirche und die für die Luisenstadtkirche bestehenden Legatenfonds dieser ausschließlich verbleiben sollten.

 

Die endgültige Vermögens-Auseinandersetzung  mit der Muttergemeinde erfolgte auf Grund einer Verhandlung zwischen den Depurtierten der Gemeindekirchenräte der Luisenstadt- und der St. Thomas-Gemeinde vor dem Kommissar des Königlichen Konsistoriums, Konsistorialrat von Westhofen am 3. Dezember 1877. Danach wurden der St. Thomas-Gemeinde die beiden Begräbnisplätze, die sie heute noch in der Hermannstraße in Neukölln besitzt, der eine über 21 Morgen, der andere über 26 Morgen groß, überlassen. Die darauf noch ruhende Hypothekenschuld in Höhe von 45.000 RM mußte die St. Thomas-Gemeinde übernehmen. Dagegen wurde ihr ein von der Luisenstadt-Gemeinde gewährter Vorschuß in Höhe von 19.249 RM erlassen.

 

2. Wachstum und Teilung der Gemeinde

 

Schon bald nach der Abtrennung von der Luisenstadtgemeinde wurde ein Teilung der beständig wachsenden St. Thomas-Gemeinde ins Auge gefaßt. Der erste Plan, der im Jahre 1866 von den zu-nächst beteiligten Behörden erörtert wurde, ging darauf hinaus, das Gebiet von der Naunynstraße, dem Köpenicker Tore und Görlitzer Bahnhof an mit einer damals vorhandenen Seelenzahl von rund 16.000 an das Pfarrsystem der Friedrich-Waisenhaus-Kirche abzutreten.

 

Dieser Plan wurde jedoch nicht ausgeführt, ebensowenig wie der im Jahre 1883 aufgetauchte Gedanke, die Waisenhauskirche eingehen zu lassen und deren Dotationen und Zuwendungen aus königlichen Kassen und Fonds für die neu abzutrennende Gemeinde in Anspruch zu nehmen.

 

Auf der Kreissynode 1867 wurde dann wiederum der kirchliche Notstand der St. Thomas-Gemeinde erörtert und von Prediger Hübner der Antrag gestellt, eine baldige Teilung der Gemeinde herbeizu-führen. Da aber die erforderlichen Mittel fehlten, mußte einstweilen zur Anstellung eines Hilfs-geistlichen geschritten werden, die mit dem 1. Juli 1868 erfolgte. Wie wenig damit der kirchlichen Not abgeholfen wurde, geht daraus hervor, daß die im Jahre 1870 etwa 60.000 Seelen zählende Gemeinde  von 2 Geistlichen und einem Hilfsprediger versorgt wurde. Die Kirchenvisitation vom 15. bis 22. Oktober 1871 gab daher aufs neue Anlaß, eingehend über die Teilung der Gemeinde zu beraten. Das Resultat dieser Beratungen war der Abbruch der Interimskirche im Juni 1872 und deren Wiederaufbau auf dem Lausitzer Platz. Zugleich wurde ein zweiter Hilfsprediger angestellt. Jedoch machte der häufige Wechsel der Hilfsprediger bald die Anstellung eines dritten Predigers notwendig. Am 16. März 1873 wurde Prediger Steinbach mit der Verwaltung des provisorischen Kirchensprengels der St. Thomas-Interimskirche betraut. Schon im Herbst desselben Jahrs mußte iihm ein Hilfsprediger an die Seite gestellt werden, da die Seelenzahl der ganzen Gemeinde mittlerweile auf 80.000 angewachsen war. Zum provisorischen Kirchensprengel der St. Thomas-Interimskirche gehörten folgende Straße: Adalbertstraße 1 – 9 a, 77 – 85, Dresdener Straße 1 – 20, Kottbusser Ufer, Lausitzer Straße, Manteuffelstraße 43 – 79, Mariannenstraße 7 a – 46, Oranienstraße 1 – 41 und 165 a bis Ende, verlängerte Ritterstraße und Skalitzer Straße 15 – 46, 96 – 136.

 

Die immer weiter wachsende Seelenzahl und der häufige Wechel der Hilfsprediger bewirkte, daß im Jahre 1878 bei etwa 100.000 Seelen eine vierte, im Jahre 1884 bei einer Seelenzahl von etwa 120.000 eine fünfte ordentliche Predigerstelle errichtet wurde. Die Gemeinde wurde provisorisch in zwei Sprengel eingeteilt. Der eine, westlich von der Manteuffelstraße gelegene, wurde von der Pfarrkirche aus durch drei Geistliche, der andere, östlich von der Manteuffelstraße gelegene, von der Interimskirche aus durch zwei Geistliche versorgt.

 

Im Jahre 1887 erreichte der kirchliche Notstand der St. Thomas-Gemeinde seinen Höhepunkt, als die Seelenzahl auf 140.000 gestiegen war und die Gemeinden den zweifelhaften Ruhm erlangte, nicht nur die größte Gemeinde Berlins, sondern der ganzen evangelischen Christenheit zu sein. In diesem Jahre kam es endlich zu der so lange geplanten Teilung der Gemeinde. Mit dem 1. April 1887 wurde die  jetztige Emmausgemeinde von der St. Thomas-Gemeinde abgezweigt. Die Grenze zwischen  beiden Gemeinden bildete die Manteuffelstraße. Nur unter schweren Opfern konnte dieses Ziel erreicht werden. Um der neuen Gemeinde die Möglichkeit zum Erwerb eigenen Friedhofslandes zu geben, mußte die St. Thomas-Gemeinde  eine Schuldenlast von 100.000 Mark  auf sich nehmen. Nach der Trennung betrug die Seelenzahl der St. Thomas-Gemeinde etwa 70.000. Seitdem  hat  sie von Jahr zu Jahr beständig abgenommen und betrug nach der Volkszählung im Jahre 1910 noch 48.200. Aber auch heute noch ist die geistliche Versorgung der Gemeinde unzureichend, denn es kommen auch heute noch auf jeden der vier Geistlichen etwa 12.000 Seelen, während man als Höchstgrenze für eine Normalgemeinde auf einen Geistlichen 7000 Seelen rechnet.